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Tag 6 - Eine Schule in den Bergen

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  Ein wenig wirkten die Männer des Dorfes reserviert. Ins Innere des Hauses durften wir nicht, nein, an einem leeren Wasserbecken vorbei kletterten wir wie Einbrecher auf eine Veranda, wo Rupert dann die bereits bekannten Fragen stellte. Gleich hinter dem Haus erhoben sich die Berge und ein Pfad führte in die Ferne. Nein, eine Schule habe man nicht im Dorf - die Kinder gingen zu Fuß nach Marmol, dem wichtigsten Dorf der Region. Zwei Stunden dauere der Weg - und der Mann zeigte auf den Pfad in die Berge. Im Winter, wenn alles verschneit sei, gebe es keine Schule.
Rupert beschloss, dass wir uns Marmol einmal ansehen sollten. Hier in diesem Dorf eine Schule zu bauen brächte nicht viel, zumal viele Kinder die Woche über scheinbar auch im Nachbardorf blieben um zu lernen. Auf dem Weg zurück zum Wagen kam uns dann ein Esel entgegen. Sultan und Taj probierten sich gleich einmal als "Donkey-Driver" - so hatte Sultan seinen Bruder immer scherzhaft wegen seiner Fahrkünste genannt. Doch das Tier erwies sich als störrisch - und so mussten wir dann wieder mit den modernen Eseln vorlieb nehmen, die am Dorfrand auf uns warteten.  
  Am Wagen angekommen bezahlte Sultan erst einmal unsere kleinen Parkwächter. Er hatte nämlich einige der Jungen, die neugierig unsere Ankunft beäugt hatten, darum gebeten, auf die Wagen aufzupassen. Ihre Aufgabe hatten die Jungs gut erfüllt - auch wenn es sicherlich wenige spezialisierte Wagendiebe hier in den Bergen gab. Allgemein schien Kriminalität in den Dörfern keine große Rolle zu spielen - in derart kleinen Gemeinschaften, wo jeder jeden kennt und Fremde nur selten vorbeikommen, pegelt sich so etwas automatisch ein. Wir stiegen wieder in unsere Wagen - die natürlich, da sie in der Sonne standen, brütend heiß waren. Weil es keinen Platz zum Wenden gab, mussten unsere Fahrer rückwärts den eingefassten Weg entlang fahren. An eine Weggabelung versuchten sie dann die Wende - ein Manöver, welches Seitens der Dorfbewohner mit großem Interesse verfolgt wurde. Die Mauern links und rechts des Weges machten die Aufgabe nicht einfacher und Sultan setzte beim Wendemanöver mit dem Wagen auf - woraufhin er erst einmal leise fluchte - andere Länder, gleiche Sitten...
Ein letzter Blick zurück - und dann waren wir wieder in den Bergen. Unsere staubige Piste führte in Serpentinen durch weite Täler. Die Landschaft war einfach nur überwältigend. Ideal für Zivilisationsaussteiger. Auf dem Weg nach Marmol erschreckten wir dann eine Eselskarawane, welche gerade auf dem Weg in Richtung Mazar war. Die Fahrt mit dem Jeep dauerte gut eine Stunde - schließlich mussten wir die Bergkette, über welche die Kinder zu Fuß liefen, komplett umfahren. Über dreißig Kilometer waren es.  
  Dann öffnete sich vor uns ein großes Tal. Grüne Bäume erstreckten sich über eine mehrere Quadratkilometer große Fläche. Unzählige Hütten klebten in der Ferne Vogelnestern gleich am Fuß der Berge. Das also war Marmol. Wie Taj uns übersetzte, bedeute der Name soviel wie "gewundene Schlange" - der Name beziehe sich wohl auf das Wasser, welches von den Berghängen aufgefangen sich im Tale sammele und somit die grüne Pracht vor unseren Augen erst möglich machte.
Das Dorf Marmol schien eine halbe Stadt zu sein. Wir fuhren endlos erscheinende Straßen entlang, von denen immer wieder Seitenstraßen abzweigten. Menschen waren nicht viele zu sehen. Nur jede Menge Kinder, die angesichts unserer Wagen ihr Spiel einstellten. Unser Führer kannte wie es aussah den Weg zu Schule - denn dorthin wollten wir. Aber es dauerte über eine halbe Stunde, ehe wir die Schule erreichten, die in der Nähe der Berge lag. Ein großer bärtiger Mann empfing uns am Eingang - Abdul Satar.  
  Herr Satar (rechts), der Leiter der örtlichen Schule bittet uns herein. Wir kommen auf einen von alten Gebäuden umstandenen Hof. In der Mitte ein Volleyballfeld und drumherum drei Zelte von der UNICEF. Am anderen Ende des Platzes ein uralter Baum, unter dessen ausladender Krone Teppiche liegen. Wir nehmen im Schatten platz. Abdul Satar entschuldigt sich - wenn man gewusst hätte, dass wir kommen, hätte man etwas vorbereitet. Dann kommen wir ins Gespräch. Alte Männer sitzen um uns herum und nach und nach kommen immer mehr Kinder herbei.
Ulrich nennt unseren Gastgeber bald den "lachenden Buddha von Marmol". Wir erfahren, dass in der Region Marmol rund 10 000 Kinder leben, davon 3 000 im schulfähigen Alter. Insgesamt leben in der Bergregion mit ihren sechs Dörfern damit 40 000 Menschen - und die einzige Schule ist das Gelände, auf dem wir sitzen. Unterricht gibt es nur im Sommer. Im Winter macht der Schnee selbst für die Kinder, die direkt in Marmol leben, das Lernen unmöglich. Die Zelte können nicht geheizt werden. Herr Satar ist Schulleiter und Dorfoberster in einem. Stolz erzählt er uns, dass Marmol eine waffenfrei Zone ist.  
  Gleich nach dem Krieg habe man alle Waffen aus dem Ort verbannt. Rupert und Ulrich sind beeindruckt. Auf dem Rückweg sehen wir beim einzigen Arzt in der Gegend ein Hinweisschild auf die waffenfreie Zone. Bei unserem Besuch war der Doktor aber gerade in Kabul. Ein Arzt für 40 000 Menschen - in Europa wäre dies unzureichend. In Afghanistan ist es immerhin etwas. Nachdem wir gut zehn Minuten saßen, servierte man uns frischen Tee. Es muss das Wasser der Bergregion gewesen sein - der Tee war sehr lecker.
Die Horde von Kindern um uns herum wurde immer größer. Nach zwanzig Minuten merkte man an Ruperts Fragen, dass er den Bauplatz für seine Schule gefunden hatte. Er stellte klar, dass die Grünhelme eine Schule nur bauen würden - unterrichten müssten die Afghanen selbst. Auch würden sie beim Bau helfen müssen und Unterkunft für das Grünhelmeteam bereitstellen. Abdul Satar nickte und meinte, dass wäre kein Problem. Auch die Transporte von Baumaterial in die Region wären kein Problem.  
  Wir hatten ja bereits LKWs auf dem Weg hier herauf gesehen. Lediglich die Kommunikation nach Marmol würde ein Problem werden: im gesamten Dorf gibt es keine Möglichkeit, Kontakt nach Mazar-e Sharif herzustellen. Bei Problemen wäre ein Bauteam ganz auf sich allein gestellt. Aber auch das störte Rupert nicht weiter. Er hatte sogar schon die ersten Zahlen parat - gut 90 000 Dollar würde die Schule kosten. Ihm ging es nicht mehr darum, ob diese Schule gebaut würde - es ging nur noch um das wann.
Sobald das Geld zusammen wäre, sollte es los gehen. Vor dem Wintereinbruch 2003 klappte es zwar nicht mehr, aber im Frühjahr 2004 soll auch in Marmol der Baulärm beginnen. (für Spenden an die Grünhelme: Link) Nach über einer Stunde im Schatten des alten Baumes wurde es für uns dann Zeit, uns wieder auf den Weg zu machen. Es war bereits Nachmittag und wir hatten noch gut drei Stunden Fahrt nach Mazar vor uns - schließlich wollte Sultan seinen Geburtstag noch ein wenig feiern.  
  Vor der Schule warteten noch einmal einige Dutzend Kinder. Hier zeigte Herr Satar, welche Qualifikation ein Lehrer in Afghanistan benötigt: ein kurzer Grunzer von ihm, und die Kinder nahmen wieder Distanz zu uns ein. Angesichts von 3000 Schülern musste das auch so funktionieren und zumindest hatten die Kleinen Respekt vor ihrem Schulleiter - in Deutschland wäre er mit dieser Art wohl erfolglos geblieben. Wir verabschiedeten uns höflich und stiegen wieder in unsere Jeeps. Dann ging die Fahrt vorbei an kleinen Hütten
Die Fahrt zurück kam mir diesmal nicht mehr so lang vor - auch wenn wir wieder eine halbe Stunde unterwegs waren. Wir blickten noch einmal zurück auf die Hütten im Tal. Ulrich war immer noch beeindruckt von den Menschen, die wir getroffen hatten. Und vor allem vom Tee. Auch er hatte selten so guten Tee getrunken. Hinter uns im Staub zurück blieben Marmol und seine Bewohner. Kaum vorstellbar, dass dieses Dorf im Winter komplett von der Außenwelt abgeschnitten war.  
  Außerhalb von Marmol war das Grün wieder weg. Die karge Landschaft lag im wärmer werdenden Licht der Nachmittagssonne. Sultan lenkte den Jeep weiter gekonnt durch die Kurven, zurück zu jener "Straße", die wir bereits herauf gefahren waren. Unterwegs an einer Kreuzung trafen wir dann wieder ein paar Esel - die verlässlichsten Transportmittel in dieser Region. Sie waren beladen mit Säcken voll Getreide, welches auf den Weg nach Mazar zum Markt war, um dort verkauft zu werden.
Als wir an der Klamm ankamen, machte Sultan erst einmal Pause. Schnell war mit ein paar Steinen das kleine Rinnsal angestaut und diente nun als afghanischer Express-Cooler für unsere Melonen, die die ganze Fahrt über bei mir auf dem Beifahrersitz gelegen hatten. Nach zehn Minuten waren sie kühl genug - schnell und fachmännisch zerlegten unsere Begleiter die Melonen und wir ließen uns die fertigen Happen schmecken. Süß und saftig waren sie, so wie eine Melone immer schmecken sollte.  
  Sultan nutzte die Pause, um noch schnell in Mazar anzurufen und mal eben seine sonstigen Geschäfte per Telefon zu erledigen. Dann machten wir uns wieder auf den Weg. Am Fuß der Berge, dort wo der einsame Panzer Wache hielt, kam uns ein alter Mann mit mehreren Eseln entgegen. Auch die Panzer standen noch in Reihe und Glied. Dann ging der Weg auf einer neuen Route weiter - immer entlang eines ausgewaschenen Flussbettes. Sultan raste vorne weg - immer Ausschau halten nach dem zweiten Wagen hinter uns.
Plötzlich war der zweite Wagen nicht mehr im Flussbett, sondern oben auf der Böschung. Sultan hielt an. Wir sollten hoch kommen, signalisierte man uns. An einer Stelle, wo der Wagen das Ufer hinauf schaffen konnte, kam uns dann unser Führer zu Fuß entgegen. Niemand wusste, ob auf den paar Metern zwischen Flussbett und Weg Minen lagen. Nachdem der Führer ok meinte, gab Sultan einfach Gas - schnell genug sein, damit die Mine erst hinter dir hochgeht - so seine Philosophie. Glücklicherweise ging alles gut. Keine Explosion erfolgte und wir konnten die Fahrt fortsetzen.  
  Sultan fuhr nun sichtlich vorsichtiger. Mir fielen drei kleine Steine am Wegesrand auf, übereinander gestapelt. Kurze Zeit später sah ich die selbe Konstruktion noch einmal. Zufall? Oder die Markierung der Minenstrecke? Wir fragten nicht weiter nach. Auf dem Weg nach Mazar kam uns ein Taxi entgegen, ein alter Lada, der allen ernstes in die Berge wollte. Sultan meinte, er solle umkehren. Wir hatten es mit den Jeeps kaum geschafft - außerdem hatte der Mann keine Ahnung von Minenfeldern. Aber zumindest glaubte er uns und kehrte um.
Am späten Nachmittag kamen wir wieder in Mazar an. Endlich konnte Sultan seinen Geburtstag feiern - und es kamen auch zahlreiche Gäste zu der Feier. Einige von ihnen tranken Alkohol - einige nicht. Und während die Männer in geselliger Runde saßen und feierten, holten die Kinder draußen an der Pumpe Wasser. Sultan hatte noch eine Überraschung für uns. Nachdem wir ihm am Morgen ein T-Shirt und eine Flasche guten polnischen Wodka geschenkt hatten, revanchierte er sich jetzt bei uns. Und so wurden Ulrich und ich mit CD`s mit afghanischer Musik überhäuft und komplett eingekleidet. Nur Rupert, der die Prozedur bereits kannte, hatte wohlweislich am Morgen darauf bestanden, dass er doch lieber nichts haben wolle. Kurz nach zehn zogen sich die Feiernden ins Innere des Hauses zurück - Ulrich und Rupert legten sich Schlafen. Ich für meinen Teil unterhielt mich noch ein wenig mit Taj und lernte seine beiden Söhne kennen (mehr hierzu im kompletten Tagebuch). Abschiedsstimmung machte sich breit - es würde die vorerst letzte Nacht in Afghanistan sein. Kurz nach Mitternacht schlief ich dann unter Asiens Sternenhimmel ein.  

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