Home Tag 1 Tag 2 Tag 3 Tag 4 Tag 5 Tag 6 Tag 7 + 8  

Tag 4 - Willkommen in Mazar-e Sharif

Um kurz vor drei war Ulrich bereits wieder wach. Totmüde quälte ich mich aus dem Bett. Aufgrund unserer Abfahrt herrschte rege Betriebsamkeit auf dem Gelände. Döne packte uns ein "Fresspaket" für unterwegs. Bei einem Kaffee saßen wir noch einmal zusammen. Sultan war irgendwo abhanden gekommen, schlief noch. Unsere Afghanen hatten die Nacht damit verbracht, über poltische Systeme zu diskutieren. Im Volldunkel der afghanischen Nächte fuhren wir los, immer darauf bedacht, keine Bauern zu überfahren.  
  Afghanistan schlief noch, bis auf eben jene Bauern, die durch das Dunkel der Nacht zu ihren Feldern eilten. Über staubige Pisten fuhren wir durch bergiges Gelände in Richtung Taluquan. Der dämmernde Morgen tauchte das Land umher erst in ein Meer von Grautönen, die langsam in beige übergingen. Eine Dunstglocke hing über uns und von Sonne war nichts zu sehen. Dann endlich Taluquan mit seinen Panzerwracks mitten in der Stadt und einem Meer von gelben Taxis auf der Hauptstraße.
Um Taluquan herum dominierten die Reisfelder. Laut Sultan wurde der Reis früher bis nach Dubai exportiert, ein Markenprodukt quasi. Wir waren mittlerweile auf der Asphaltstraße von Taluquan nach Kunduz. Nach all den Feldwegen war dies eine willkommene Abwechslung. Am Straßenrand standen immer wieder ausgebrannte Panzerwracks, welche die Reisfelder bewachten. Sultan erzählte uns, dass die Bauern im Feld meist ihre Kühe vorweg schickten - lieber eine explodierte Kuh durch Minenkontakt...  
  Auch unsere Straße war nicht ganz ohne. An einer Stelle fuhren wir an den Minenräumern des Halo-Trust vorbei. Die Straße selbst war geräumt - links und rechts lagen aber weiß-rote Steine, die den Beginn des Minen-Areals kennzeichneten. Und mittendrin mutige Männer, die für eine friedliche Zukunft ihres Landes ihr Leben aufs Spiel setzen. Im Bereich der Minenfelder fuhren wir auch durch viele Dörfer, die ausgestorben waren. Nur bunte Wimpel kündeten von den Toten vergangener Kämpfe.
Langsam näherten wir uns Kunduz. Es war halb acht und wir waren seit fast sechs Stunden unterwegs. Zeit für ein Frühstück. Und so machten wir am Ufer eines kleinen Flusses halt und ließen uns das Fresspaket von Döne schmecken. Knäckebrot mit Frühstücksfleisch - trocken aber nahrhaft. Der afghanische Straßenverkehr - alte LKW in bunter Bemalung, Pferdekarren, Eselkarawanen und Fußgänger - zog derweil an uns vorbei. Immer noch lag eine Dunstglocke über dem Land, aber die Temperaturen stiegen trotzdem weiter.  
  Dann endlich Kunduz - im ersten Moment ein überdimensioniertes Dorf, ein Konglomerat von Lehmhütten, Bazaaren und tausenden Menschen, die Ameisen gleich die Straßen bevölkern. Wir fuhren zur Vertretung des Außenministeriums, um Noorzad Noorulha zu treffen, den Beamten, der hier in der Provinz die Fahne aus Kabul hoch hielt. Doch Herr Noorulha war noch nicht im Büro, und so bat man uns, im Warteraum für Afghanen Platz zu nehmen. Einfach und schlicht, aber wir waren froh, einfach mal ohne Wagen zu sitzen.
Herr Noorulha erschien pünktlich zum Dienst. Er schien Sultan zu kennen und bat uns sofort in sein eigentliches Büro - mit Klimaanlage und Interieur der besseren Art. Ulrich und Rupert kamen mit ihm ins Gespräch über die Probleme der Region. Noorzad Noorulha verwies auf die Problematik mit dem Strom. Die Stadt hatte einmal ein Wasserkraftwerk, gebaut von Siemens, welches aber nie ans Netz ging. Es überlebte alle Kriege und Wirren - bis vor zwei Jahren die US Air-Fore meinte, man müsse mal ein wenig Stahl und Sprengstoff auf die Taliban abwerfen - die natürlich ganz woanders waren.  
  Ulrich und Rupert fragten natürlich auch nach der militärischen Lage in der Stadt. Herr Noorulha meinte, dass Kunduz genauso sicher sei wie andere Städte auf der Welt. Es gebe keine Konflikte zwischen Commandern, nur ein übliches Maß an Klein-Kriminalität. Ein Engagement der Deutschen in der Stadt wurde von ihm sehr begrüßt. Ganz ohne Hilfe von außen gehe es noch nicht, und er ließ durchscheinen, dass ihm die Deutschen ganz lieb wären. Noch immer ist der Ruf, den wir am Hindukutsch haben, sehr gut.
Nach einem aufschlussreichen Gespräch war es für uns an der Zeit, wieder aufzubrechen. Und so verließen wir Kunduz - nicht auf direktem Weg nach Mazar-e Sharif, denn dort gab es nur Schleichwege, sondern auf der von den Kämpfen durchlöcherten Straße in Richtung Puli Khumri, Richtung Südwesten. Die Straße war ein graus. Schlagloch an Schlagloch reihte sich und Sultan kurbelte wie ein Bessener, um uns heil durch den Schlamassel zu bringen. Eine der ersten Aufgaben der Deutschen sollte die Instandsetzung dieser Straße nach Kabul sein  - soviel stand fest.  
  Über drei Stunden brauchten wir für sechzig Kilometer Straße. Und es kam, wie es kommen musste - meine Kamera war wohl zu schwer und Sultan hatte in einem der zahlreichen Schlaglöcher einen Plattfuß herbeigefahren. Also eine Zwangspause mit Reifenwechsel - wie sich später herausstellte genau dort, wor die Straße wieder besser wurde. Und während wir die Landschaft betrachteten, rollte an uns der Verkehr vorüber, den Sultan oft noch wenige Minuten zuvor waghalsig überholt hatte...
Ich hatte Zeit, die Landschaft aufzunehmen. In der Ferne im Dunst war ein Dorf aus Zelten zu sehen, eine Flüchtlingssiedlung. Zwei Männer kamen von dort quer über die Ebene. Auf der Straße dann eine Gruppe Kinder mit Schulranzen. Sie schienen auf dem Weg nach Hause zu sein. Außer einigen Grasbüscheln schien es hier nichts zu geben. Erst als wir nach einer halben Stunde weiterfuhren bemerkte ich den Fluss, der die ganze Zeit einen halben Kilometer von mir entfernt vorbeigeflossen war.  
  Wenige Kilometer hinter unserer Pannenstelle lag bereits Puli Khumri. Wir kamen zur Hauptstraße zwischen Mazar und Kabul und an einer Brücke über einen Gebirgsfluss war erst einmal Pause angesagt. Unsere Wagen hatten sich eine Wäsche verdient und auch wir waren einem Bad im Flusse nicht abgeneigt. Rupert planschte fröhlich im Fluss. Das Wasser war herrlich frisch, eine Wohltat nach all dem Staub des Tages. Zum Mittag gab es dann eine leckere Wassermelone. Hunger hatte ich keinen, aber die Melone stillte den Durst.
Unsere Wagen wurden derweil von einer Horde eifriger Kinder gewaschen. Die Brücke musste einmal hart umkämpft worden sein, denn am Flussufer standen noch sechs ausgebrannte Schützenpanzer herum. Aber diese störten uns beim Baden nicht. Gut erfrischt kehrten auch die Lebensgeister wieder zurück, und so konnten wir dann die Fahrt auf der Asphaltpiste nach Mazar fortsetzen - ohne Staub. Gut 200 Kilometer glatte Straße lagen vor uns - im Vergleich zur Fahrt bis Puli Khumri ein Spaziergang.  
  Gleich hinter Puli Khumri bot sich uns ein seltsames Bild: die Straße führte durch ein zehn bis zwanzig Kilometer breites Tal. Links und rechts der Straße standen Dutzende von "Reihenhäusern" - Lehmhütten mit ein wenig Land dahinter - allesamt leer. Sultan erzählte uns, dass diese Häuser von den Taliban gebaut wurden, als Belohnung für Kriegsveteranen. Mich erinnerte es an eine Mischung aus radikalem Kommunismus und römischer Veteranen-Pflege. Wohnen hätte ich hier nicht wollen - nirgendwo waren Bäume oder Wasser zu sehen.
Dörfer gab es entlang der Straße sonst kaum. Wenn, dann lagen sie am Fuße der Berge, die sich links und rechts unseres Weges entlangzogen. Nur ab und an war ein Zelt in Straßennähe aufgeschlagen. Ich dachte erst an Flüchtlinge - stellte dann aber fest, dass es Bauern waren, die direkt in ihren Feldern eine Unterkunft aufgebaut hatten, um zum einen den weiten Weg zur Feldarbeit abzukürzen und zum anderen ihre Ernte - die umliegenden Getreidefelder - zu sichern. Und natürlich bot das Zelt auch Schutz vor der Sonne, die jetzt zum Mittag unerbittlich war.  
  Nach gut hundert Kilometern rückten die Berge dichter an die Straße heran. Kaputte Stromleitungen begleiteten unseren Weg, Zeugen von besseren Zeiten. Auch die Spuren von Kämpfen wurden jetzt wieder zahlreicher. Ich hatte während der Fahrt versucht, ein wenig zu schlafen. Aber Sultan und sein Bruder Taj lieferten sich ein Wettrennen auf der Asphaltpiste und Sultan wurde nicht müde, die Fahrtkünste des Bruders unter "Donkey-Driver" abzutun. Zumindest rückte Mazar-e Sharif auf diese Weise schneller näher.
In der Nähe von Khulm machten wir eine letzte, kurze Pause. Mitten in einem grünen Tal mit großen, grünen Bäumen stand so etwas wie eine Raststätte. Wir verweilten aber nur kurz. Bald lagen die Berge hinter uns. Neben der Straße erhob sich Khulm, eine grüne Oase mit einem alten, weithin sichtbaren Fort. Danach folgte die Ebene nach Mazar: staubtrockenes Land und Wanderdünen links und rechts der Straße, kaum eine Menschenseele zu sehen. So zog sich das Land über mehr als 50 Kilometer bis hin nach Mazar-e Sharif.  
  Dann endlich der Stadtrand von Mazar! Ruinen und eine heruntergekommene Kaserne am Rand, dann das "Industriegebiet" - lauter kleine Gewerke in alten Containern untergebracht. Ein großer Kreisverkehr mit einem Park in der Mitte und wir waren bereits in der Nähe der Uni. Sultan bog in eine Seitenstraße - wir waren endlich da. Die Familie hieß uns herzlich willkommen. Müde und erschöpft saßen wir in einem Raum und wurden festlich bewirtet. Sultan schlief bald ein.
Ulrich und Rupert planten bereits den nächsten Tag. Der Dienstag war soweit gelaufen. Nach dem Essen baten wir Sultan nur noch, uns zur German Agro Action, der Welthungerhilfe zu bringen. Aufs Geratewohl tauchten wir um kurz nach sechs dort auf - Joachim Boenisch, der deutsche Leiter, war bereits zu Hause. Nach einem Anruf kam er aber extra für uns noch einmal in sein Büro. Herr Boenisch erzählte uns viele wichtige Sachen über die Lage des Landes - zum Beispiel, dass die Afghanen dank des vielen Regens eine Rekordernte eingefahren hatten.  
  Der Haken: die Getreidehilfslieferungen verderben die Marktpreise - nicht gut für das Land. Nach einem interessanten Gespräch und einer Einladung zum Grillen am nächsten Tag ging es zurück zur Unterkunft. Es war kurz nach neun, aber für Sultans Familie kein Hinderniss, uns nicht noch ein Festmahl aufzutischen. Unter freiem Himmel saßen wir und aßen und erzählten. Ein langer Tag ging zu Ende. Wir waren im Dunkeln aufgestanden und im Dunklen betteten wir uns auch zur Ruhe - unter dem weiten Sternenzelt Asiens mit dem Schlafsack in der Sitzecke.